(…) In den Kindergarten kam ich mit drei Jahren. An meinem ersten Tag, es war Juli, und ich hatte gerade erst Geburtstag gehabt, brachte mich meine Mutter mit dem Auto dorthin.
„So“, sagte sie, als sie den Wagen parkte. „Das ist der Kindergarten, Panagiota.“
Ich machte große Augen. „Wie lange muss ich hierbleiben?“
„Den ganzen Tag.“
„Den ganzen Tag?“, schrie ich entsetzt. „Wie lange ist das?“
„Na ja …“ Meine Mutter dachte nach. „Also, du bleibst, bis sie die Stühle auf die Tische stellen und zu putzen anfangen. Vorher will ich dich nicht zu Hause sehen, verstanden?“
Wenn ich heute davon höre, dass sich Freunde, die Nachwuchs im Kindergartenalter haben, zwei Wochen von der Arbeit freinehmen, um ihre Kinder an die neue Umgebung zu gewöhnen, muss ich mir manchmal das Lachen verkneifen. Meine Mutter war viel zu pragmatisch für so was. Zu ihrer Verteidigung sei gesagt, es waren die Achtziger, da hatte kein Mensch Zeit für „Kindergarteneingewöhnung“, vermutlich gab es das Wort auch noch gar nicht. Stattdessen lieferte mich meine Mutter bei den Kindergärtnerinnen ab und bläute mir noch einmal ein, dass ich bloß keinen Unsinn anstellen solle. Dann drehte sie sich um und sagte zu der großen Frau, die sich als Frau Bosch vorgestellt hatte: „Passen Sie gut auf diesen kleinen Teufel auf. Die ist brandgefährlich!“ Und verschwand.
Ich brauchte weniger als eine Minute, um mich zu verdünnisieren. In einem unbeobachteten Moment – es war der erste Tag und es gab viele neue Kinder, also war das Chaos gewaltig und niemand nahm so richtig Notiz von mir – büxte ich einfach aus und marschierte durch die Eingangstür hinaus. Über einen Schleichweg rannte ich zurück nach Hause. Ich wollte nicht im Kindergarten bleiben! So viele fremde Kinder und diese große Frau, die auf einmal das Sagen hatte, dabei sagte mir doch sonst niemand, was ich zu tun hatte. Ich war an Kalle, Icke und Herrn Weiß gewöhnt, an die Arbeiter aus der Stahlfabrik Grossmann, an meine Mutter hinter dem Tresen und meinen Vater auf einem Barhocker davor, umringt von mehreren Tageszeitungen, die er stundenlang studierte, immer mit einer qualmenden Roth-Händle ohne Filter in der Hand.
Kinder? Noch dazu in meinem Alter? Bastelsachen? Spielzeuge? Das war nicht meine Welt. Bloß weg hier!
Also rannte ich, so schnell mich meine kurzen Beine trugen, nach Hause. Weil ich eine Abkürzung nahm, kam ich sogar noch vor meiner Mutter zu Hause an und saß schon auf der Treppe vor dem Eingang zum Bergischen Hof, als sie um die Ecke bog.
Sie ließ das Fenster der Beifahrertür runter und rief: „Du kleiner Teufel! Warum bist du nicht im Kindergarten?“
„Ich will nicht in den Kindergarten!“, rief ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Als ob das irgendwas genützt hätte.
Meine Mutter sprang aus dem Auto, verfrachtete mich auf den Rücksitz und brachte mich zurück in die Einrichtung, wo ich einen ganzen Tag lang unter dem Aquarium verbrachte und mich versteckte. Vor den anderen Kindern, aber auch vor der furchteinflößenden Frau Bosch, die mit ihrer gurrenden und säuselnden Stimme auf mich einredete.
Glücklicherweise legte sich meine Aversion gegen den Kindergarten schon bald. Als ich nämlich begriff, dass es das Land der unbegrenzten Möglichkeiten war. Und zwar nicht etwa wegen der anderen Kinder, Spielgefährten oder Bastelarbeiten, oh nein. Sondern wegen der anderen Eltern.
Meine Mutter hatte mir ja sehr deutlich gemacht, dass ich es besser nicht wagen sollte, vor Schichtende im Kindergarten daheim aufzuschlagen. Also hatte ich jede Menge Zeit, die anderen Eltern dabei zu beobachten, wie sie ihren Nachwuchs am Nachmittag abholten.
Am Anfang war ich baff. Nicht nur, dass die meisten Kinder nicht allein nach Hause laufen mussten, sondern einen persönlichen Shuttle-Service durch ihre Eltern bekamen, die sie mit einem geflöteten „Hallo, mein Schatz!“ begrüßten. Die Mütter und Väter nahmen sich auch noch die Zeit, die Taschen abzulegen und die Jacken auszuziehen, sich auf einen der kleinen Stühle sinken zu lassen und sich anzuschauen, was ihre Kinder am Tag so produziert hatten. Wasserfarbenbilder. Kastanienmännchen. Aus Konservendosen gebastelte Roboter. Alles wurde bewundert.
„Oh, Sabine, das hast du aber toll gemacht!“, hörte ich ein ums andere Mal. Oder auch: „Mensch, Carsten! Hast du das ganz allein gebastelt?“
Und während ich so dasaß und die Eltern von Sabine und Carsten beobachtete, sah, mit wie viel Liebe und Zuneigung sie die hässlichen Fabrikate ihrer Kinder betrachteten, wie sie eine halbe Stunde dort sitzen blieben und weiter an den Bildern ihrer Kinder arbeiteten, spürte ich das Verlangen, das meine Mutter dasselbe mit mir tat.
Also fragte ich meine Kindergärtnerin, Frau Bosch: „Meinst du, meine Mama freut sich, wenn ich ihr meine Sachen zeige?“
„Aber klar, Panagiota“, meinte Frau Bosch. „Du hast dir doch so viel Mühe gegeben beim Malen und Basteln. Nimm alles mit und zeig es deiner Mama, sie wird sich bestimmt riesig freuen.“
Pädagogen … Frau Bosch hatte natürlich keine Ahnung, wie meine Mutter so drauf war, als griechische Einwanderin, aufgewachsen mit sieben Geschwistern am Arsch der Heide, irgendwo hinter Thessaloniki im Dorf Lefkouda. Die Familie meiner Mutter war, nachdem ihr Vater vier Jahre nach ihrer Geburt gestorben war, so arm, dass sich meine Großmutter sogar dazu entschlossen hatte, ein Kind zur Adoption freizugeben. Meine Mutter hat, genau wie ihre Geschwister auch, in ihrer Kindheit großen Hunger erlitten, da ihre Mutter es kaum fertigbrachte, für alle genug auf den Tisch zu bringen. Eine liebevolle Erziehung? Pädagogisches Feingefühl? Pustekuchen! Es ging nur darum, satt zu werden. Meine Mutter hat keinen blassen Schimmer von Pädagogik und wusste wahrscheinlich noch nicht einmal, warum es für Kinder wichtig ist, in den Kindergarten zu gehen. Oder das Malen zu lernen. Bis heute bin ich nicht in der Lage, auch nur ein Strichmännchen anständig hinzubekommen, und meine Handschrift ist eine Sauklaue. Schönschreiben? Das interessierte bei uns daheim nicht. Deswegen kritzele ich wie ein verrückter Professor, krakelig und verwackelt. Geburtstags- und Glückwunschkarten gestaltet mein Freund, ich darf maximal meine unleserliche Signatur daruntersetzen.
Natürlich sind an meinem mangelnden Zeichen- und Schreibtalent nicht allein meine Eltern schuld. Sie ermunterten mich allerdings nie, zu malen oder zu zeichnen, weil sie darin keine nützliche Fähigkeit erkannten, die mich eines Tages einmal weiterbringen würde. Sie waren stets darum bemüht, die Grundbedürfnisse meiner Geschwister und mir abzudecken, uns etwas zu essen, zu trinken, ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum Schlafen zu bieten. Und verglichen mit ihrem spartanischen, ja armseligen Leben in Griechenland sahen uns meine Eltern aufwachsen wie die Made im Speck. Ein eigenes Zimmer, ein eigenes Bett, zwei warme Mahlzeiten am Tag, Schulbildung, Sommerferien in Griechenland … Was konnte man einem Kind eigentlich noch geben? Es bekam doch schon alles, was sie selbst nie gehabt hatten, und noch tausend Mal mehr.
Ich verstehe meine Eltern. Sie haben alles für uns gegeben, wanderten in ein fremdes, kaltes Land fernab der eigenen Familie aus, in eine komplett andere Kultur, lernten eine neue Sprache und versuchten, sich irgendwie durchzuschlagen, und zwar nur, damit ihre Kinder es einmal besser haben als sie. Man darf nicht vergessen, dass meine Mutter und mein Vater keine besondere Schulbildung genossen hatten. Mama war vier Jahre in der Schule, Papa ganze sechs. Griechenland war nach dem Krieg noch nicht so weit entwickelt wie die westeuropäischen Länder. Während Deutschland fünfzig Jahre „Zeit“ hatte, sich von der Großelterngeneration, die nur Lesen und Schreiben lernte, über die soliden Handwerksberufe und Ausbildungen der Eltern bis zu den Akademikerkindern zu entwickeln, gab es in ärmeren Ländern wie Griechenland, Spanien und Italien oft größere Entwicklungssprünge innerhalb nur weniger Jahre. Das prägt, nicht nur eine Nation, sondern auch Familien, denn eine Mutter, die selbst Hunger erlitten hat, wird nicht verstehen, warum sie ihr Kind zur musikalischen Früherziehung schicken sollte.
Meine besonderen Talente, wie auch immer die ausgesehen haben könnten, wurden demnach nicht gefördert, zumindest nicht direkt – was nicht heißt, dass ich mich nicht entwickelte. Doch ich ging nicht zum Ballettunterricht für Kleinkinder und lernte auch keine exotische Sprache im Grundschulalter. Für solchen Schnickschnack hatten die Petridis einfach keine Zeit und auch kein Verständnis. Und natürlich gehörten meine Kunstwerke auch zu diesem Schnickschnack.
Insofern fiel die Reaktion meiner Mutter auf meine Bastelwerke auch ganz und gar anders aus, als Frau Bosch es mir versprochen hatte.
Ich nahm alles, was ich in den letzten Wochen produziert hatte, aus dem Fach, über dem das Bild eines kleinen Wildschweins klebte. Jedem Kind war ein Tier zugeordnet worden, und mir hatte man, warum auch immer, ein Wildschwein gegeben. Auf jeden Fall räumte ich das gesamte Fach leer, stapelte all die gewellten Papiere, die gefalteten Vögel, die Pfeifenputzer-Schmetterlinge und das Haus aus Klopapierrollen aufeinander und machte mich auf den Nachhauseweg.
Der Weg war lang. Zumindest fühlte er sich sehr lang an. Ich musste den Hindenburgplatz überqueren, der mir wie eine nicht enden wollende, geteerte Wüste vorkam. In der Ferne konnte ich die Baumreihen und Büsche erkennen, die die Grenze zur Wiesenstraße markierten, in der wir wohnten. Es war Spätherbst, der Wind blies mir kalt ins Gesicht und zerrte an den Papieren in meiner Hand. Doch ich ließ mich nicht unterkriegen, und mochte es der Olymp sein, den ich zu erklimmen hatte, um meiner Mutter zu zeigen, was ich im Kindergarten gemacht hatte.
Ich marschierte weiter. Ein paar Mal musste ich anhalten, um meine Bastelerzeugnisse neu zu stapeln oder anders zu greifen, weil sie mir andauernd aus der Hand rutschten. Denn natürlich hatte ich mich nicht mit einer Auswahl der besten Kunstwerke zufriedengegeben, ich wollte daheim restlos alles zeigen, um die maximale Bestätigung zu bekommen.
Irgendwann kam ich erschöpft, aber glücklich zu Hause an und drückte mit meinem mickrigen Gewicht die Tür zur Gaststätte auf. Verrauchte, bierdunstgeschwängerte Luft schlug mir entgegen.
„Mama, Mama! Ich muss dir was zeigen!“
Meine Mutter kam aus der Küche. Der Mittagsansturm war seit ein paar Stunden vorbei – er war die schlimmste Zeit des Tages, in der man meinen Eltern am besten nicht zwischen die Füße kam. Um Punkt zwölf klingelte nämlich drüben bei Grossmann die Glocke, und es marschierten mal eben einhundert Männer in den Bergischen Hof, die in einer Stunde sechs Bier, vier Frikadellen und zwei Schnitzel pro Nase verputzten, um dann gestärkt in den Nachmittag zu gehen. Heißt: Zwischen zwölf und eins brannte bei uns die Hütte, danach blieb es ein paar Stunden ruhig, bis die zweite Schichthälfte in der Stahlfabrik vorbei war und der Bergische Hof wieder aus allen Nähten platzte. Doch Mama musste jetzt schon alles vorbereiten, wenn sie später hinter dem Zapfhahn stehen wollte. An ihren Fingern klebte Hackfleisch, und sie wirkte gestresst. In dreißig Minuten war bei Grossmann Feierabend.
„Was ist los, Panagiota?“
„Ich hab dir was mitgebracht.“ Stolz legte ich alle Basteleien auf einem der Tische ab und breitete die Papiere vor den Augen meiner Mutter aus. „Hier, das haben wir letzte Woche gemalt.“ Ich zeigte auf ein Bild, auf dem ich ein Ahornblatt mithilfe von Wasserfarben in einen Pfau verwandelt hatte. „Und das da ist ein Roboter.“ Ich hielt ihr das krumme Konservendosen-Männchen unter die Nase.
Meine Mutter starrte erst die Bastelarbeiten, dann mich an. Schließlich sagte sie, während sie sich das restliche Hackfleisch von den Händen putzte: „Panagiota! In einer halben Stunde rennen mir die Gäste die Bude ein. Und du hast nichts Besseres zu tun, als den Müll aus dem Kindergarten mitzubringen?“
Ich war aufrichtig verwirrt. „Müll?“
„Alte Dosen! Kastanien. Blätter. Was ist das, wenn nicht Müll?“ Sie wandte sich ab. „Schmeiß das weg. Und dann wasch dir die Hände.“
„Aber Mama …“ Ich war verunsichert. Warum bekamen die Sabines und die Carstens ein Lob und die Aufmerksamkeit ihrer Eltern, wenn sie ihre Bilder zeigten, ich jedoch wurde als Müllsammlerin abgetan?
Meine Bastelarbeiten landeten an diesem Tag im Abfalleimer. Und zwar nicht im normalen, sondern im „bösen“ Abfalleimer. Das war der, in den die Scherben kamen – und der für mich absolut rote Zone war. Der böse Abfalleimer war tabu, dem durfte ich mich nicht auf einen Meter nähern. Ich durfte nichts hineinwerfen und erst recht nichts herausholen, denn meine Eltern hatten Angst, dass ich mich an den Scherben schneiden könnte. In diesem schwarzen Loch waren meine gesammelten Werke gelandet. Für immer verloren. Hinfort.
Ich fing an zu weinen. Ich hatte mir so viel Mühe gegeben! Und ich hatte alles den langen Weg über den Hindenburgplatz bis in den Bergischen Hof geschleppt.
Meine Mutter sah mich verdutzt an. „Panagiota, warum weinst du denn jetzt?“ Sie schien wirklich nicht zu begreifen, warum ich traurig war. Stattdessen stemmte sie die Hände in die Hüften. „Hör mal, du weißt doch, dass wir immer ganz viel Müll haben wegen der Kneipe.“
Ich nickte.
„Siehst du. Und deswegen muss ich den Müllmännern immer zwei Kästen Bier hinstellen, damit sie unseren extra Müll mitnehmen. Das weißt du doch auch, oder?“
Wieder nickte ich.
„Und wenn du jetzt Papier und Klopapierrollen und Pfeifenputzer und andere Sachen aus dem Kindergarten mitbringst, dann muss ich den Müllmännern noch mehr Bier hinstellen, damit sie alles mitnehmen. Verstehst du das?“
Hm. So hatte ich die Sache noch gar nicht betrachtet. Ich bekam ja mit, wenn Mama den Männern in Orange das Bier gab. Und ich wusste auch, warum sie das tat. Und jetzt hatte ich ihr also noch viel mehr Müll nach Hause gebracht, und sie musste noch mehr Bier an die orangefarbenen Männer abgeben.
Noch einmal regte sich Widerstand in mir. „Aber Mama, das ist doch gar kein Müll.“ Ich schielte in Richtung des bösen Abfalleimers. „Das sind meine Bilder für dich.“
Meine Mutter seufzte. „Panagiota, mein Schatz, du hast Klopapierrollen und alte Pfeifenputzer mit nach Hause gebracht. Natürlich ist das Müll!“
Ich hatte aufgehört zu weinen, denn offensichtlich meinte meine Mutter es nicht böse, wenn sie meine Bastelarbeiten wegwarf. Ich konnte ihr also ebenfalls nicht wirklich böse sein – sie hatte mir schließlich ganz ruhig erklärt, warum ich mit keiner anderen Reaktion zu rechnen hatte. (…)