Leseprobe – Offen für alles

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Ein Geräusch ließ sie erwachen. Viviane blinzelte gegen das hereinfallende Sonnenlicht und brauchte einen Moment, ehe sie sich orientiert hatte. Erneut erklang das Geräusch. Es war das Knistern von Papier, das ertönte, wenn eine großformatige, dünne Seite umgeschlagen wurde.

Karl las mal wieder DIE ZEIT. Am Sonntagmorgen. Im Bett.

Viviane drehte sich so um, dass ihr Gesicht zur Mitte des Bettes zeigte, und zerknüllte das Kissen unter ihrem Arm, bevor sie den Kopf darauf ablegte. MERKEL LÄSST TIEF BLICKEN prangte ihr in Großbuchstaben entgegen, darunter war ein Foto des Kanzlerinnen-Dekolletés abgedruckt, das sie anlässlich der gerade eröffneten Bayreuther Wagner-Festspiele mal wieder der Weltöffentlichkeit präsentiert hatte. Wie jedes Jahr.

„Guten Morgen“, murmelte Viviane und verschloss die Augen vor dem Elend.

Papier raschelte. „Morgen.“

Als Viviane wieder hinguckte, erblickte sie ihren Ehemann mit nacktem Oberkörper, verwuscheltem, graumeliertem Haar, das ihm wirr vom Kopf abstand, und der dicken schwarzen Hornbrille auf der Nase, die er in den vergangenen zwanzig Jahren zu seinem Markenzeichen gemacht hatte. Unabhängig von jedweden Trends hatte sich Karl mit schlafwandlerischer Sicherheit immer wieder genau dasselbe Modell bei genau demselben Optiker seines Vertrauens ausgesucht – alle Jahre wieder, so oft die Kasse bezahlte. Never change a winning team, pflegte Karl zu sagen, wenn er auf seine Modelltreue angesprochen wurde. Meistens von Viviane, die sich an den Anblick in den vergangenen siebzehn Jahren Ehe zwar hinreichend gewöhnt hatte, sich aber dennoch von Zeit zu Zeit wünschte, ihre Augen bekämen etwas Abwechslung geboten.

„Hast du gut geschlafen?“ Karl schob die großformatige Wochenzeitung ein Stück zur Seite, lehnte sich zu Viviane und wollte ihr einen Kuss auf den Mund geben.

Da sie noch keine Zähne geputzt hatte und morgendliches Küssen ohne vorangegangenes Zähneputzen für eine Unsitte hielt, drehte sie im letzten Moment den Kopf zur Seite und hielt ihrem Mann die Wange hin.

„Tief und fest und traumlos.“ Sie streckte sich, dehnte ihre Arme und gähnte ausgiebig, während Karl wieder hinter der Wochenzeitung verschwand.

Viviane richtete sich auf, band sich mit einem Haargummi vom Nachttisch die hellbraunen schulterlangen Haare zum Zopf, schwang die Beine über die Bettkante und streckte sich erneut. Der Blick auf ihr Smartphone verriet, dass es viertel nach acht war. In einer Dreiviertelstunde würde sie Claudia an der Ecke zum Englischen Garten für die wöchentliche Joggingrunde treffen. Vorher war noch Zeit für eine Tasse Kaffee und einen Moment für sich allein. Nach dem Joggen begann dann die Fütterung der Raubtiere.

Nach vielen Jahren, in denen die Mädchen ihre Eltern immer schon Stunden vor dem Morgengrauen, gern auch mitten in der Nacht geweckt hatten, kam es Viviane heute manchmal so vor, als ob ihre Töchter von einer seltenen Schlafkrankheit befallen wären. Vor allem Mathilda, die Fünfzehnjährige, die mittlerweile mit Karacho in die Pubertät geschlittert war, hatte als Baby und Kleinkind beinahe jede Nacht zum Tag gemacht und Viviane damit vermutlich einige Lebensjahre gekostet. Heute schlief sie vierzehn Stunden am Stück, besonders in den Sommerferien, die vor wenigen Tagen gerade begonnen hatten, wohingegen Viviane selbst den Eindruck hatte, jedes Jahr eine Viertelstunde früher aufzuwachen und nicht mehr einschlafen zu können. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Nicht nur einmal hatte Viviane in den stillen Stunden vor dem Sonnenaufgang darüber nachgedacht, Töpfe schlagend und staubsaugend durchs Haus zu lärmen, um sich für eine Dekade ohne Tiefschlafphase zu rächen.

Aber natürlich blieben derlei Überlegungen ein Gedankenspiel. Sie liebte ihre Älteste schließlich. Auch wenn es in letzter Zeit etwas herausfordernder war als damals, als Mathilda noch ein freches, neugieriges Mädchen und kein schlecht gelaunter, vorlauter Teenager gewesen war.

Sarah hingegen war mit ihren elf Jahren noch kilometerweit von der Geschlechtsreife entfernt. Sie spielte immer noch mit Barbies, wünschte sich seit sieben Jahren zu jedem Geburtstag ein Pony im Garten und träumte nachts unter einem fluoreszierenden Sternenhimmel, den ihr Karl fachgerecht im Sternbild der Fische an die Decke übers Bett geklebt hatte, ihrem Sternzeichen.

Viviane stand mit einem Seufzen von der Bettkante auf und öffnete die Tür des Kleiderschranks. Sie zog eine knappe Shorts aus Stretch und ein ärmelloses Top aus der Schublade mit den Trainingsklamotten, griff nach einem Sport-BH, den kurzen Sneaker-Söckchen und einem Slip. Sie legte alles aufs Bett und begann, sich aus dem Schlafanzug zu schälen.

Es war Ende Juli und außergewöhnlich heiß in Europa, wie schon in den letzten Jahren. Obwohl noch recht früh am Morgen, war das Thermometer bereits über die 25-Grad-Marke geklettert. Anstelle einer Bettdecke schliefen Viviane und Karl seit Wochen nur mit einem dünnen Laken – was sie immer an Urlaub denken ließ. In Ländern wie Italien, Spanien oder Portugal war es vollkommen normal, sich nachts nur mit einem dünnen Baumwolltuch zuzudecken. Und weil es diesen Sommer zum ersten Mal seit Jahren nicht in den Urlaub ging, da Viviane keine Praxisvertretung gefunden hatte, Sarah in den Reiterurlaub fahren würde und Mathilda ohnehin keinen Bock darauf hatte, mit ihrer unfassbar uncoolen Familie zu verreisen, waren die Laken doch zumindest ein kleines Zugeständnis in Richtung Ferien im Süden.

Viviane liebte die Hitze. Wenn sie mit dem Fahrrad von Bogenhausen, wo sie mit ihrem Mann und den beiden Töchtern lebte, ins Glockenbachviertel in ihre Praxis fuhr, genoss sie das trockene Prickeln des Fahrtwindes auf ihrem Gesicht. Zugegeben nur bei der Hinfahrt, denn da ging es bergab. Auf dem Heimweg, wenn sie nach acht Stunden Uterusbegutachtung und Brustbetastung müde und ausgelaugt war, konnte sie der Schwüle, die sich wie ein dickes Tuch über München ausbreitete, nicht mehr ganz so viel abgewinnen. Trotzdem fand sie, dass sie mit 44 noch lange nicht in dem Alter war, sich ein eBike zuzulegen. Außerdem wollte sie nicht auf die 251 Kalorien verzichten, die sie sich durch den mühsamen Aufstieg nach Bogenhausen verdiente.

Während sie in die Trainingsklamotten schlüpfte, blieb ihr Blick wieder auf dem Foto der Kanzlerinnen-Brust hängen. „Was liest du da eigentlich?“

Karl sah nicht auf. „Einen ganz interessanten Artikel“, murmelte er.

„In dem es worum geht?“

Er blickte von der Zeitung auf und faltete die Seiten so zusammen, dass das Dekolleté der Kanzlerin an genau jener Stelle gestaucht wurde, wo die Natur die Spalte zwischen ihren Brüsten gesetzt hatte. „Um einen Mann, der eine Kontaktanzeige aufgibt.“

„Es lebe das Qualitätsmedium Wochenzeitung“, spottete Viviane und lief in Top und Unterhose ins angrenzende Badezimmer, um die Zahnbürste mit Zahnpasta zu bestreichen. „Eine Kontaktanzeige. Wenn das nicht mal Grund für eine Reportage ist.“

„Der Mann ist verheiratet.“

Viviane fing an, sich die Zähne zu putzen. „Aw wo. Iwt daw wo weine Gewiwte, wei wer wer Wann weinen weuen Wann wür weine Wrau wucht, weil wer werben wird?“ Sie erhielt keine Antwort. Deshalb lehnte sie sich so weit nach hinten, dass sie durch den Türrahmen aufs Ehebett gucken konnte. „Wallo?“

„Ich habe kein Wort verstanden, Liebling“, meinte Karl mit einem Seufzen, ohne aufzublicken.

Viviane putzte sich die Zähne zu Ende, rollte sich etwas Deo unter die Achseln und ging zurück ins Schlafzimmer. „Ich habe gefragt, ob das so eine Geschichte ist, in der jemand, der unheilbar erkrankt ist, per Kontaktanzeige einen neuen Mann für seine Frau sucht.“ Sie ließ sich auf der Bettkante neben Karl nieder. „Das finde ich ja irgendwie romantisch.“

Er schlug die Zeitung zusammen. „Nein. Das ist die Geschichte eines Mannes, der eine außereheliche Affäre mittels Kontaktanzeige sucht.“

Viviane zog die Augenbrauen zusammen. „Und er stirbt nicht?“

„Sieht nicht so aus, nein.“

„Also sucht er nur Sex.“

„Das steht da.“

Viviane stand vom Bett auf. „Das ist ja echt das Allerletzte.“

Karl blinzelte hinter den dicken Brillengläsern zu ihr hoch. Sie sah ihm an, dass er keine Lust hatte, mit ihr zu diskutieren – aber er wusste, dass Widerstand zwecklos war. Sie würde ja doch keine Ruhe geben.

„Findest du?“, fragte er.

„Du etwa nicht?!“

„Na ja. Wenn es im Bett nicht mehr läuft …“ Er hob die Zeitung wieder an und versteckte sich dahinter.

Viviane wurde lauter, als sie beabsichtigt hatte. „Das ist doch noch lange kein Grund, seine Frau zu betrügen!“

„Liebling, pscht“, machte Karl und nickte mit dem Kopf in Richtung der Schlafzimmertür. „Die Mädchen schlafen noch.“

„Das ist doch jetzt nicht das Thema“, wiegelte Viviane unwirsch ab. „Da ist ein Typ, der offenbar keinen Sex mehr mit seiner Frau hat, und jetzt sucht er sich eine Affäre. In der ZEIT!“

„Macht das einen Unterschied, ob er es in der ZEIT oder in der Bar um die Ecke tut?“, gab Karl zu bedenken.

„Sei nicht so spitzfindig“, knurrte Viviane.

„Und überhaupt, wir wissen ja auch gar nicht, warum dieses Paar keinen Sex mehr hat. Vielleicht ist sie krank“, meinte Karl schulterzuckend.

„Oder er.“

„Warum diskutieren wir über das Sexleben anderer Leute?“, wollte er plötzlich wissen.

„Weil es dabei ums Prinzip geht.“

„Aber das wissen wir doch gar nicht. Ich weiß ja nicht mal, warum der Mann … Warte mal, ich lese weiter.“ Er tauchte wieder im Artikel ab, während Viviane in die Laufschuhe schlüpfte.

Ihre Meinung stand fest: Dieser Ehemann, über den da berichtet wurde, war ein Arsch. Er gab eine Kontaktanzeige auf, um andere Frauen zu finden, mit denen er dann seine Gattin betrügen konnte. Das ging ja wohl mal gar nicht! Wenn sie so darüber nachdachte, wie viele Kontaktanzeigen wöchentlich in München erschienen, wurde ihr ganz schlecht. Wie viel Prozent davon waren wohl Ehemänner, die nur ein Betthäschen suchten?

Immerhin war sie sich sicher, dass Karl so etwas niemals tun würde. Er war ein Mann mit Prinzipen und Moral. Das könnte er nicht, sie hintergehen. Natürlich, Viviane wusste, dass man für niemanden, nicht mal (oder gerade) seinen eigenen Ehemann, die Hand ins Feuer legen konnte. Wieso gab es sonst so viele Frauen, die total überrascht waren, wenn ihr feiner Gatte ihnen plötzlich eröffnete, die Bedienung aus der Kneipe um die Ecke geschwängert zu haben? Vor neun Monaten …

Aber Karl war nicht so einer. Viviane ließ den Blick über ihren Ehemann wandern, oder besser gesagt über das, was hinter der Zeitung zu sehen war. Er war einer von den Guten. Er interessierte sich nicht für sowas … eine schnelle Nummer. Nichtssagenden Sex. Anonyme Begegnungen. Und auch nicht für eine Affäre, schob Viviane hastig in Gedanken hinterher. Dafür war Karl doch viel zu … Sie suchte nach einem Wort. Umständlich! Und nicht raffiniert genug. Er wäre niemals in der Lage, seine Frau vorsätzlich zu hintergehen. Nein, das Format hatte Karl nicht, und eigentlich war Viviane auch ganz froh, dass sie sich dessen so sicher sein konnte.
Oder?

Sie drehte sich zum Ehebett um. Karls flusige angegraute Haare ragten über den Rand der Zeitung hinaus. Sie hatte sich darüber noch nie Gedanken gemacht, ob Karl sie betrog. Wieso auch? Und warum tat sie es jetzt?

Er ließ die Zeitung sinken. „Ist was?“

„Das frage ich dich. Was bringt dein Geschlechtsgenosse denn zu seiner Verteidigung vor?“

Karl verdrehte die Augen. „Steht er unter Anklage?“

Sie seufzte. „Du weißt genau, was ich meine. Wenn er mit anderen Frauen schlafen will, warum trennt er sich nicht einfach von seiner eigenen?“

Er hob die Schultern. „Weil er sie liebt?“

„Dann sollte er nicht fremdgehen.“

„Sie schlafen aber nicht mehr miteinander.“

Viviane sagte kühl: „Das ist keine Entschuldigung.“

„Vielleicht weiß sie es ja und ist glücklich darüber.“

Sie schüttelte den Kopf. „So machen es sich Männer immer sehr einfach.“

Karl schlug die Zeitung zusammen. „Viviane, mein Schatz, vielleicht sollte ich dir noch einmal in Erinnerung rufen, dass nicht ich derjenige bin, der diese Kontaktanzeige in der Zeitung geschaltet hat. Und dass diese Diskussion nicht nur ohne Grundlage, sondern auch absolut sinnlos ist.“

„Warum verteidigst du den Mann dann?“

Er warf das Laken zur Seite und stand auf. „Das tue ich doch gar nicht!“

Vivianes Blick blieb an seiner Boxershorts hängen. Die Beule darin war nicht zu übersehen. „Was ist denn das?“

Karl sah nach unten. Dann blickte er mit ausdruckslosem Gesicht Viviane an. „Eine Morgenlatte. Gestatten: meine Frau.“ Damit wandte er sich ab und marschierte in Richtung Badezimmer.